Eine Reise vom Alexanderplatz bis zur Lichtenberger Brücke durch die Allee im Osten Berlins: Die Karl-Marx-Allee in Berlin ist ein international bedeutsames Ensemble von Architektur. Ebenso groß ist ihre Bedeutung für die Geschichtsschreibung von Deutschland. Und diese Allee hat mich mein Leben lang begleitet. In der Kindheit war sie Teil meines Schulweges. Meine Tante Lotte wohnte in ihr. Ich war häufig in der Karl-Marx-Buchhandlung. Als junger Filmemacher machte ich meinen ersten längeren Dokumentarfilm über sie. Dreißig Jahre später fahre ich jetzt jeden Morgen mit dem Fahrrad durch die Allee zur Arbeit. Meine Bewegung durch die Straße ist auch eine Bewegung in der Zeit.

 

Mein erster Film über die Allee („Stalinallee/Archäologische Studien“, 1991, 30 Minuten, hier z.B.  YouTube https://youtu.be/N_hOhxhtm_Y?si=kcaAialydqbNjaYn ) war eine Bestandsaufnahme, den Spuren und Relikten des gerade untergegangen DDR-Systems nachforschend.

„Die Miete hat immer denselben Preis gehabt, von Anfang an bis heute: 37 Mark und 35 Pfennig, war wie im Märchen“ sagt Margarete Petersilie am Ende des ersten Filmes. Sie klopfte wie tausende anderer Frauen die Steine aus den Bombentrümmern, gewann dann in der Aufbaulotterie eine Wohnung zur Miete in der Allee. Damals  sollten hier aus den Kriegstrümmern die "Paläste für die Arbeiter" entstehen. Die Allee wurde in Stalinallee umbenannt, die Bauten der Architekten im ironisch gebrochenen Zuckerbäckerstil, dabei  in ihrer Würde nicht nur deklarativ. Doch Brecht äußert nachdenklich zum Architekten Henselmann, als der ihn im Auto durch „seine“ Alle fährt: „Wenn man bedenkt, dass man das alles nun wieder abreißen muss“. Der Volksaufstand vom 17. Juni begann in der Stalinallee.

 

Der jüngere (zweite) Bauabschnitt zwischen Alex und Strausberger Platz wird zunehmend in seiner Rolle für die DDR-Moderne erkannt. Keine „prononcierte Gemütlichkeit“ wie zuvor, sondern „Häuser wie muntere Fregatten auf großer Fahrt“. Wenn da nicht an den Festtagen ebendort in der Allee die Tribüne mit den Machthabern, vor denen die Bevölkerung vorbei defilieren musste, die freie Fahrt nie wirklich aufkommen ließ.

 

Die Allee führt als Radiale aus der Stadt hinaus, vorbei an den Gebäudekomplexen des MfS (Hauptverwaltung und Bezirksverwaltung),  am Horizont stehen als Fluchtpunkt Natur, Feld, Pilze im Wald oder der Bahnhof Lichtenberg, der wie die Allee in den Osten führt. Die Allee, eine Straße im Urstromtal – auf einer Seite der Allee hügelt sich der Barnim auf, unten auf der Allee strömt der Puls der Autos, eine immerwährende Bewegung. Aus ihren Wohnungen am Rand der Bewegung blicken die Bewohner. Ihr Heim: Schutz und Hoffnung, illusionäre Perlen von Konstanz im Bewegen der Zeit.


Das Märchen ist lange aus. Meine damaligen Protagonisten sind tot. Wie die gestorbene Utopie. Aber auch die wehe Hoffnung der Wende. Warum wuchs daraus eine Narbe?  Fragen in die Zukunft gerichtet. Auf dem Vergangenen stehend, kauernd, am Saum des Hauses, in das Licht und Dunkle der Zukunft blickend, ist unsere Gegenwart ein Sprung oder ein Fall durch die Zeit.




Material zum Film




AN EINEN JUNGEN BAUARBEITER DER STALINALLEE


Deine Allee hat noch keine Bäume

 

lch weiß nicht, woher du es nehmen sollst, was ich von dir verlange

 

Dem Mann, der mit dir feilscht um

Sag ihm: ich weiß, was du willst, für den Staat der Arbeiter ist

Jeder Pfennig so viel wie für mich. Aber feilsche nicht zu lang

Mit mir. Ich weiß es auch.

 

Dem, der dich anschreit, sag:

Leiser, Freund! Das höre ich besser.

 

Dem, der das Kommando gibt, sag:

Kommando muß sein, bei so vielen, in so großen Unternehmungen

Mit so wenig Zeit

Aber kommandiere so

Daß ich mich selber mitkommandiere! erkundige dich, was da ist

Wenn du etwas forderst, Genosse


Bertolt Brecht, 1953/54


  www.antikwein.de   (Karl-Marx-Allee 67)

   








www.cafe-sibylle.org

  Karl-Marx-Allee 72













Mein Vater - der junge Mann mit  der Fahne - in "tiefer Trauer"

vor dem Stalindenkmal im März 1953


Viele der im Film verwendeten Fotos stammen vom Fotografen und Fotojournalisten  Heinz Krüger (1919-1980). Sein Nachlass mit zehntausenden Postivabzügen und Negativen bewahrt das Museum und Galerie Falkensee auf, mit dessen freundlicher Unterstützung ich die Foto für den Film verwenden durfte. Ein Besuch dort lohnt sich: www.museum-galerie-falkensee.de/


Bei den Fotopionieren in der Karl-Marx-Allee 87 findet  eine Fotoausstellung zu Heinz Krüger statt. Ein Besuch der Ausstellung läßt sich gut mit einem Spaziergang durch die Allee verbinden.

 

www.fotopioniere.com/


Ausstellungseröffnung am Freitag, 25. Oktober, 19 Uhr

Sonst: Mo-Sa 10 bis 18Uhr

Bei den Fotopionieren läßt sich auch das Filmposter für 10 € kaufen.


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Ich bin der Welt abhanden gekommen


Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben.
Sie hat so lange von mir nichts vernommen,
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben.
 
Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
Ob sie mich für gestorben hält;
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.
 
Ich bin gestorben dem Weltgewimmel
Und ruh’ in einem stillen Gebiet.
Ich leb’ in mir und meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied.


Friedrich Rückert, 1821


Gustav Mahler vertonte das Gedicht 1901. Die im Film verwendete Tonaufnahme entstand 1952 mit den Wiener Philharmonikern und der Altistin Kathleen Ferrier unter der Leitung von Bruno Walter.







„Ede und Unku“

 

Das Kinderbuch von Alex Wedding erschien erstmalig 1931 im Malik-Verlag. Es erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen dem Sinti-Mädchen Unku und dem Arbeiterjungen Ede im Berlin um 1930. Es gehörte zu den Büchern, welche die Nationalsozialisten 1933 als volksfeindlich öffentlich verbrannten. In der DDR dann wurde der Jugendroman millionenfach gelesen, 1980 von der DEFA verfilmt „Als Unku Edes Freundin war“ (Regie: Helmut Dziuba).


Das Sinti-Mädchen Unku im Buch hieß mit bürgerlichen Namen Erna Lauenburger. Der nationalsozialistische Rassentheoretiker Robert Ritter  stufte sie in einem Gutachten 1941 als „Zigeuner-Mischling (+)“ ein. Erna Lauenburger wurde 1943 in Magdeburg festgenommen und in das „Zigeunerlager Auschwitz“ deportiert. Dort wurde sie, ihre beiden Kinder Marie und Bärbel und fast alle anderen Verwandten ermordet.


Robert Ritter und seine enge Mitarbeiterin Eva Justin bekamen nach dem Krieg eine Anstellung bei der Stadt Frankfurt/Main. Man stellte sich gegenseitig Persilscheine aus, die Anschuldigungen von Überlebenden perlen ab, so stellt der Frankfurter Oberstaatsanwalt 1950 fest: „Es handelt sich um die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit Aussagen von Zigeunern zur Grundlage richterlicher Überzeugungen gemacht werden können.“ Eva Justin begutachtet bis 1962 als Kriminalpsychologin der Stadt Frankfurt/Main weiter „Zigeuner“.


Literatur: „Ede und Unku – Die wahre Geschichte“ Janko Lauenberger mit Juliane von Wedemeyer/ Gütersloher Verlagshaus 2018 bei amazon

„Oh Django, sing deinen Zorn“ Reimar Gilsenbach/BasisDruck Verlag 1993

 



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